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BGH stärkt die fiktive Schadenabrechnung nach einem Verkehrsunfall

BGH, Urteil vom 28.01.2025, AZ: VI ZR 300/24
Hintergrund
Der Kläger nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer auf Schadenersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das vorgerichtlich vom Kläger veranlasste Sachverständigengutachten, auf dessen Grundlage er seinen Schaden gegenüber der Beklagten abrechnete, wies Reparaturkosten in Höhe von 3.087,80 € netto aus. Während eines Urlaubs in der Türkei ließ der Kläger sein Fahrzeug vollständig sach- und fachgerecht reparieren. Zu den Kosten dieser Reparatur macht er keine Angaben. Die beklagte Versicherung zahlte nicht. Mit seiner Klage verlangt der Kläger Schadenersatz in Höhe von 4.178,05 € (3.087,80 €Reparaturkosten, merkantiler Minderwert, Sachverständigenkosten, Nutzungsausfallentschädigung, Unkostenpauschale) nebst Rechtsanwaltskosten und Zinsen. Das vorgehend AG Meinerzhagen (Urteil vom 28.11.2022, AZ: 4 C 67/22) hat die Klageabgewiesen, da diese unschlüssig sei. Der Kläger könne nur die im Ausland tatsächlich angefallenen Reparaturkosten verlangen, zu denen er aber nicht vorgetragen habe. Auf die Berufung des Klägers hat das LG Hagen (Westfalen) (Urteil vom 23.08.2024, AZ:7 S 2/23) nach Beweisaufnahme das Urteil des AG Meinerzhagen teilweise abgeändert. Es hat die Beklagte auf der Grundlage einer Haftungsquote von 40 % zu ihren Lasten zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 1.583,48 € (davon 1.132,38 € Reparaturkosten)nebst Rechtsanwaltskosten und Zinsen verurteilt. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des AG Meinerzhagen - ohne Erfolg.

Aussage
Das Berufungsgericht hat aufgrund der vom Kläger gewählten fiktiven Schadenabrechnung die Reparaturkosten rechtsfehlerfrei zuerkannt. Entgegen der Ansicht der Revision war der Kläger nicht verpflichtet, zu den tatsächlichen Kosten der sach- und fachgerecht durchgeführten Reparatur in der Türkei vorzutragen. Der Geschädigte eines Kraftfahrzeugsachschadens hat bei Ausübung der Ersetzungsbefugnis des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB die Wahl, ob er fiktiv nach den Feststellungen eines Sachverständigen oder konkret nach den tatsächlich aufgewendeten Kosten abrechnet. Bei fiktiver Abrechnung ist der objektiv zur Herstellung erforderliche Betrag ohne Bezug zu tatsächlich getätigten Aufwendungen zu ermitteln. Der Geschädigte, der nicht verpflichtet ist, zu den von ihm tatsächlich veranlassten oder auch nicht veranlassten Herstellungsmaßnahmen konkret vorzutragen, disponiert hier dahin, dass er sich mit einer Abrechnung auf einer abstrahierten Grundlage zufrieden gibt. Nach diesen Grundsätzen hat der Geschädigte regelmäßig Anspruch auf Ersatz der in einer markengebundenen Fachwerkstatt anfallenden Reparaturkosten – unabhängig davon, ob er das Fahrzeug voll, minderwertig oder überhaupt nicht reparieren lässt. Bei der fiktiven Schadenabrechnung genügt der Geschädigte dem Gebot der Wirtschaftlichkeit nach § 249Abs. 2 Satz 1 BGB im Allgemeinen, wenn er der Schadenabrechnung die üblichen Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legt, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat. Dasselbe gilt für die Kosten der Ersatzteile. Allerdings muss sich der Geschädigte bei fiktiver Schadenabrechnung gemäß § 254 Abs. 2BGB vom Schädiger – auch noch im Rechtsstreit – auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen freien Fachwerkstatt verweisen lassen, wenn der Schädiger darlegt und gegebenenfalls beweist, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Werkstattentspricht und wenn er gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände widerlegt, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen würden. Angesichts dieser Rechtslage hat der Senat entschieden, dass auf der Grundlage einer preiswerteren Reparaturmöglichkeit abzurechnen ist, wenn ein Verweis der Schädigerseite darauf nicht einmal erforderlich ist, weil der Geschädigte die Möglichkeit einer vollständigen und fachgerechten, aber preiswerteren Reparatur selbst darlegt und sogar wahrgenommen hat (Senatsurteil vom 3. Dezember 2013 - VI ZR 24/13, VersR 2014, 214 Rn. 11).Mit Verweis auf dieses Senatsurteil vom 3. Dezember 2013 vertreten nicht nur die Revision und das Amtsgericht im Streitfall, sondern auch Teile der Rechtsprechung und Literatur die Ansicht, wenn eine sach- und fachgerechte Reparatur des Fahrzeugs in dem Umfang erfolgt sei, den der Sachverständige für notwendig gehalten habe, dann sei der Schadenersatz auf die tatsächlich angefallenen Bruttokosten begrenzt. Andernfalls bestehe die Gefahr einer unzulässigen Bereicherung durch den Unfall. Die Forderung weiterer fiktiver Reparaturkosten sei dann unschlüssig. Auf dieser Grundlage wird eine Verpflichtung zur Darlegung der tatsächlichen Reparaturkosten oder zur Vorlage der Reparaturrechnung angenommen. Die Gegenmeinung verweist darauf, wenn der Geschädigte bei erfolgter sach- und fachgerechter Reparatur den tatsächlichen Aufwand darlegen müsse, bedeute dies die Aufgabe der Rechtsprechung zur fiktiven Abrechnung. Dies sei dem Senatsurteil vom 3.Dezember 2013 nicht zu entnehmen und führe zu zufälligen Ergebnissen, je nachdem, ob der Geschädigte die Reparatur vor oder nach Abschluss der Schadenregulierung durchführen lasse. Die zuerst genannte Ansicht wie auch die Revision, die der Meinung ist, der Kläger müsse im Streitfall zu den Reparaturkosten in der Türkei vortragen, verkennen die Tragweite der Ersetzungsbefugnis und der Dispositionsfreiheit des Geschädigten nach § 249 Abs. 2 Satz 1BGB. Bei der fiktiven Abrechnung hat der Geschädigte weder darzulegen, dass er seinen Unfallwagen hat reparieren lassen, noch auf welche Weise und in welchem Umfang die Reparatur durchgeführt worden ist. Dem Geschädigten kann auch nicht mangels Vorlageeiner Reparaturkostenrechnung oder Vortrags zu den tatsächlich angefallenen Reparaturkosten Schadenersatz versagt werden. Richtschnur für den vom Schädiger nach §249 Abs. 2 Satz 1 BGB zu leistenden Ersatz sind nicht die vom Geschädigten tatsächlich aufgewendeten Reparaturkosten, sondern der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag. Beider Ermittlung dieses Betrags sind im Rahmen der fiktiven Abrechnung Gesichtspunkte, die eine tatsächlich durchgeführte Reparatur (gleich an welchem Ort) betreffen, grundsätzlich irrelevant. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Senatsurteil vom 3. Dezember 2013. Darin heißt es zwar: "Deshalb beläuft sich auch im Rahmen einer fiktiven Abrechnung der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag auf die tatsächlich angefallenen Bruttokosten, wenn der Geschädigte seinen Kraftfahrzeugsachschaden sach- und fachgerecht in dem Umfangreparieren lässt, den der eingeschaltete Sachverständige für notwendig gehalten hat, und die von der beauftragten Werkstatt berechneten Reparaturkosten die von dem Sachverständigenangesetzten Kosten unterschreiten" Diese Aussage bezieht sich jedoch auf einen vom Streitfall abweichenden Sachverhalt. Im dortigen Fall war ein Verweis der Schädigerseite auf eine gleichwertige, aber günstigere Reparaturmöglichkeit in einer dem Geschädigten mühelos und ohne Weiteres zugänglichen Werkstatt nicht erforderlich, weil der Geschädigte hierzu selbst – auch zu den Kosten der in einer Fachwerkstatt an seinem Wohnort durchgeführten Reparatur – vorgetragen hatte. Damit hatte der Geschädigte selbst eingeräumt, dass die Voraussetzungen der Schadenminderungspflicht erfüllt sind. So liegt der Fall hier aber nicht. Der Kläger hat die fiktive Abrechnung der Reparaturkostengewählt und nicht selbst zu einer gleichwertigen, aber günstigeren Reparaturmöglichkeit in einer ihm mühelos und ohne Weiteres zugänglichen Werkstatt vorgetragen. Um eine solche Werkstatt, auf die die Beklagte den Kläger hätte verweisen können, handelt es sich bei der Reparaturmöglichkeit in der Türkei von vornherein nicht, wie die Revision selbst erkennt. Etwaige finanzielle Vorteile, die der in Deutschland wohnende Kläger durch die Reparatur seines hier zugelassenen Fahrzeugs in der Türkei erzielt hat, sind im Rahmen der fiktiven Schadenabrechnung nicht zu berücksichtigen.

Praxis
Ein wichtiges Urteil zur fiktiven Abrechnung. Hier ließ der Kläger sein Auto nach einem Unfall in Deutschland anschließend in der Türkei fachgerecht reparieren. Es ist davon auszugehen, dass die Reparatur preiswerter war, als im Gutachten prognostiziert. Er rechnete aber weiterfiktiv ab und schwieg zu den Kosten. Der BGH stellt nun klar: Es gibt keine Verpflichtung, bei fiktiver Abrechnung zu den tatsächlichen Kosten vorzutragen. Entscheidend für den vom Schädiger zu leistenden Ersatz ist allein der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag auf Basis des Gutachtens. Was eine tatsächlich durchgeführte Reparatur (gleich an welchem Ort) gekostet hat, ist bei der fiktiven Berechnung grundsätzlich irrelevant. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem vom erstinstanzlichen AG Meinerzhagen zitierten Urteil des BGH vom 03.12.2013 (AZ: VI ZR 24/13). Im damaligen Fall handelte es sich, so der BGH, um einen abweichenden Sachverhalt, da die Frage zu klären war, ob die Versicherung, durch einen Verweis "auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen freien Fachwerkstatt" nachweisen könne, dass die im Gutachten ermittelte Summe nicht zur Herstellung notwendig sei (Schadensminderungspflicht des Geschädigten, § 254 BGB). Der Geschädigte in diesem Fall hatte allerdings nicht geschwiegen, sondern selbst erklärt, dass die Reparatur billiger war. Daraus könne aber, so der BGH im aktuellen Urteil weiter, anders als von Teilen der Rechtsprechung und Literatur angenommen, keine Pflicht zur Offenlegung abgeleitet werden. Aufgrund der Entfernung komme die Werkstatt in der Türkei als günstigere Vergleichswerkstatt von vorneherein nicht in Betracht. Das Urteil schafft eine erhöhte Rechtssicherheit für Unfallgeschädigte. Sie dürfen weiterhin entscheiden, ob sie die entstandenen Kosten konkret oder fiktiv abrechnen möchten. Wichtig dabei ist, dass sich Geschädigte grundsätzlich auf die ermittelten Kosten eines unabhängigen Gutachtens verlassen dürfen, ohne belegen zu müssen, welche Reparaturen tatsächlich durchgeführt wurden. Allerdings bleibt zu beachten, dass Versicherungen weiterhin die Möglichkeit haben, auf günstigere Reparaturmöglichkeiten hinzuweisen, sofern diese qualitativ gleichwertig und für den Geschädigten leicht erreichbar sind.
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